Es war nicht meine Schuld
Wenn eine 79-jährige Frau auf einem Friedhof vergewaltigt wird, sollte sich dann die Frage gestellt werden, ob sie zu aufreizend gekleidet war? Wenn eine schwerstmehrfachbehinderte Frau in einer Pflegeeinrichtung von einem Krankenpfleger vergewaltigt wird, sollte dann hinterfragt werden, ob sie zuvor Alkohol konsumiert hatte? Wenn unterschiedlichste Frauen innerhalb ihrer Ehe vergewaltigt werden, ist ein „Nein“ dann zu undeutlich gewesen?
Diese Fragen können ganz klar mit einem Nein beantwortet werden. Trotzdem sind es Situationen, die genau so vorgefallen sind und wahrscheinlich immer wieder vorfallen werden. Vergewaltigungen können in jeglichen Situationen passieren, ohne dass die Betroffenen Einfluss darauf nehmen können. Die Verantwortung für das Geschehene liegt immer beim Täter. An dieser Stelle gilt es zu erwähnen, dass 99 % der Tatverdächtigen bei Vergewaltigungen Männer sind, weshalb auf dieser Website in der männlichen Form vom „Täter“ gesprochen wird.[1] Was jedoch nicht bedeuten soll, dass die Thematik sich nicht gleichermaßen auf Täterinnen bezieht.
Die Unbedeutsamkeit der Kleidung wird auch in der Ausstellung „Männerwelten“ deutlich. Hier wurden betroffene Frauen u.a. dazu befragt, was sie getragen hatten, als sie vergewaltigt wurden. Das Video dazu kann unter folgendem Link angeschaut werden:
https://www.prosieben.de/tv/joko-klaas-gegen-prosieben/video/32-maennerwelten-joko-klaas-15-minuten-clip (ab Minute 14:17)
Gravierende Zahlen
- Jährlich werden etwa 8.000 Vergewaltigungen angezeigt. [2]
- Ein Großteil der Vergewaltigungen wird nicht zur Anzeige gebracht. Lediglich zwischen 5 und 15 % der Taten werden polizeilich gemeldet. Somit ist die tatsächliche Zahl an Vergewaltigungen deutlich höher. In Dunkelfeldforschungen wird von 160.000 Vergewaltigungen jährlich ausgegangen. Das bedeutet, dass etwa alle drei Minuten eine Frau in Deutschland vergewaltigt wird. [3]
Aus den Zahlen geht deutlich hervor – wir sprechen hier nicht von Einzelfällen. Es ist ein gesellschaftliches Problem. Jede Frau und jedes Mädchen kann potenziell betroffen sein!
Doch wie kann es sein, dass Vergewaltigungen so gegenwärtig sind und vergleichsweise so wenig davon sichtbar wird?
Geringes Risiko für Täter
Da nur die wenigsten Übergriffe angezeigt werden, ist die Dunkelziffer sehr hoch. Aus einer Studie geht hervor, dass nur etwa 8% der Frauen, die vergewaltigt wurden, die Polizei einschalteten. [4] Eine weitere Studie verdeutlicht, dass 8.000 Vergewaltigungen jährlich angezeigt werden. Verurteilt werden bei 8.000 Anzeigen lediglich etwas mehr als 1.000 Täter in Deutschland. Das entspricht einer Verurteilungsquote von 13%, was sehr gering ist.[5]Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Falschanschuldigungen bei Vergewaltigungen sehr selten vorkommen - lediglich 3 % der angezeigten Vergewaltigungen stellen sich als unbegründet heraus. [6]
Vergewaltigungsmythen
Betroffene werden sehr häufig mit sogenannten Vergewaltigungsmythen konfrontiert, wenn sie über die erlebte Vergewaltigung sprechen. Vergewaltigungsmythen sind Überzeugungen, die sexualisierte Gewalt verharmlosen, die Täter entlasten und den Betroffenen eine Mitschuld zuschreiben. Durch derartige Fehleinschätzungen kann verhindert werden, dass Betroffene die Tat anzeigen oder darüber sprechen. Darüber hinaus werden Betroffene durch derartige Beschuldigungen erneut zum Opfer gemacht (Reviktimisierung).
Es gibt zwei Varianten von Vergewaltigungsmythen:
- Die, die sich auf die Betroffenen beziehen und
- die, die sich auf Täter beziehen.
Um eine Vorstellung zu bekommen, einige Beispiele:
- Opferbezogene Mythen:
a. „Sie wollte es doch auch.“
b. „Die Kleidung der Frau hat die Vergewaltigung provoziert."
c. „Die Anzeige ist eine Falschanzeige aus Rache."
d. „Das Verhalten der Frau hat eine Vergewaltigung provoziert.“ (bspw. Alkoholkonsum, flirten,...)
- Täterbezogene Mythen:
a. „Es war nur ein Ausrutscher.“
b. „Vergewaltiger sind psychisch krank.“
c. „Männer können ihre Sexualität nicht kontrollieren.“
Was bewirken Vergewaltigungsmythen?
Vergewaltigungsmythen und die damit verbundenen Folgen werden verharmlost, wenn Vergewaltigungsmythen (unbewusst) akzeptiert werden. Die Tat wird zum Teil geleugnet, das Verhalten der Täter entschuldigt und den Betroffenen mindestens eine Mitschuld zugeschrieben, da diese hätten anders handeln können. Durch Vergewaltigungsmythen werden sexuelle Gewalttaten vermeintlich gerechtfertigt. Auch haben sie zur Folge, dass die Glaubwürdigkeit der Betroffenen u.a. im Strafverfahren infrage gestellt werden kann und eine generalisierte Skepsis gegenüber der Aussage der Betroffenen in den Köpfen verharrt. Die Erfahrungen, die Betroffene im Strafverfahren machen, tragen dazu bei, dass der Heilungsprozess erschwert sein kann und die Gewalterfahrungen schwieriger bewältigt werden können. Die Anerkennung des geschehenen Unrechts hilft bei der Verarbeitung des Traumas, welches aus der erlebten Vergewaltigung hervor gehen kann.
Auch stellt es sich als problematisch heraus, wenn Betroffene selbst Vergewaltigungsmythen im Laufe ihres Lebens verinnerlicht haben. So haben sie eine bestimmte Vorstellung im Kopf, wie Vergewaltigungen auszusehen haben. Im Falle des Erlebens eines sexualisierten Gewaltübergriffes, der nicht nach der im Kopf verankerten Vorstellung abgelaufen ist, wird dieser nicht als Straftat definiert und es scheint nicht gerechtfertigt, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen. Oftmals halten Vergewaltigungsmythen Betroffene davon ab, sich jemandem anzuvertrauen. Aus Studien geht hervor, dass 47,2% der Frauen[7] mit niemandem über das Erlebte sprechen, wodurch deutlich wird, wie gravierend der Einfluss von Vergewaltigungsmythen sowie Scham verankert sind. Nach wie vor ist das Sprechen über sexualisierte Gewaltvorfälle in der Gesellschaft tabuisiert.
Dies zeigt, welche Macht Vergewaltigungsmythen besitzen. Es ist wichtig, diese zu entkräften. Im folgenden Teil werden die gängigsten Mythen vorgestellt und die Realitäten dazu erläutert.
Mythen und Realitäten
Mythos:
Vergewaltigungen in Deutschland sind nur Einzelfälle.
Realität:
Alle 3 bis 5 Minuten wird in Deutschland eine Frau vergewaltigt. [8]
Mythos:
Nur junge, attraktive Frauen oder solche, die sich aufreizend kleiden oder verhalten, werden vergewaltigt.
Realität:
Jedes Mädchen und jede Frau kann im Laufe ihres Lebens von Vergewaltigung betroffen sein. Alter, Aussehen, Kleidung, Nationalität oder Religion spielen dabei keinerlei Rolle. Kein Verhalten einer Frau kann eine Vergewaltigung rechtfertigen. Die Täter tragen die alleinige Verantwortung. Es handelt sich um Machtmissbrauch.
Mythos:
Eine Frau kann nicht vergewaltigt werden, wenn sie sich mit allen Mitteln wehrt.
Realität:
Eine Vergewaltigung erfolgt gegen den Willen der Frau und kann als lebensbedrohlich empfunden werden. Infolgedessen können Schockzustände auftreten, die Gegenwehr unmöglich machen, wodurch manche Frauen die Tat stillschweigend ertragen. Auch wehren sich viele Betroffene nicht aus Angst, die Gewalteinwirkung zu verschlimmern. Andere bangen um ihr Überleben.
Mythos:
Frauen werden vergewaltigt, wenn sie nachts allein in dunklen Gassen unterwegs sind.
Realität:
Vergewaltigungen werden zu jeder Tageszeit und an beliebigen Orten verübt. In den meisten Fällen finden die Übergriffe in sozialen Nahräumen statt, wobei Wohnungen den häufigsten Tatort darstellen. 69 % der sexuellen Gewalttaten werden innerhalb der eigenen Wohnung erlebt. [9]
Mythos:
Vergewaltiger sind kranke, gestörte Triebtäter. Die Taten sind sexuell motiviert.
Realität:
Über 90% der Täter weisen keine psychopathologischen Auffälligkeiten auf. Es gibt keinerlei wissenschaftliche Grundlage dafür, dass Männer ihre Sexualität nicht kontrollieren können. In erster Linie dienen Vergewaltigungen der Erniedrigung von Frauen sowie dem Ausüben von Macht und Kontrolle. Sexualität wird instrumentalisiert, um die Gewalt perfider zu gestalten.
Mythos:
Viele Anzeigen von Vergewaltigungen sind Falschanzeigen. Frauen nutzen dies als Mittel, um Rache auszuüben.
Realität:
Es kommt nur in extrem seltenen Fällen zu falschen Beschuldigungen - in ca. 3% aller Fälle. Ganz im Gegenteil zeigt ein Großteil der betroffenen Frauen (ca. 90%) den Täter aus Angst und Scham nicht an. [10] Je enger die Beziehung zum Täter, desto seltener erfolgt eine Anzeige.
Mythos:
Eine Frau, die wirklich vergewaltigt wurde, der sieht man das Erlebte auch an.
Realität:
Jede Frau reagiert nach einer Vergewaltigung individuell auf das Geschehene. Diese Reaktionen lassen keine Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit zu. Während manche Frauen völlig verzweifelt und aufgelöst sind, werden andere aggressiv oder ruhig und ziehen sich zurück. Ein "typisches Opferverhalten" gibt es nicht. Die Verarbeitung ist so unterschiedlich, wie Persönlichkeiten verschieden sind. Viele wollen erstmal vergessen und verdrängen und Folgen werden oftmals erst später sichtbar.
Mythos:
Eine Vergewaltigung stellt eine aggressive Form des Geschlechtsaktes dar, die einige Frauen als luststeigernd empfinden.
Realität:
Vergewaltigungen sind ein massiver Angriff auf Körper, Psyche und Selbstbestimmung und stellen damit eine existenzielle Bedrohung und keine Variante sexueller Aktivität dar.
Vergewaltigungsmythen stellen ein gesellschaftliches Phänomen dar, das ein Umdenken erforderlich macht. Konstruiertes Schubladendenken sowie ungerechtfertigte Anschuldigungen sollen durchbrochen werden, wodurch Betroffenen geholfen werden kann, die traumatisierenden Erlebnisse zu verarbeiten und sie vor zusätzlichen Belastungen oder Schuldzuweisungen zu schützen. Es sollte ein Verständnis für die Leidtragenden geschaffen werden und Hilfesuchenden diese geboten werden. Anschuldigungen, dass die betroffene Person lediglich Aufmerksamkeit sucht, Lügen verbreitet oder Mitschuld trägt, dürfen in der Gesellschaft keine Akzeptanz finden.
Was kann ich tun?
- Reflektiere deine Denkmuster und distanziere dich von Vergewaltigungsmythen.
- Achte auf Zeichen in deinem Umfeld. Zieht sich dort jemand stark zurück oder entwickelt Verhaltensauffälligkeiten (bspw. einen Waschzwang)?
- Hab ein offenes Ohr und achte auf dein Umfeld.
- Du bist selbst Zeug*in / beobachtest eine übergriffige Situation? Greif ein, wenn du dich dadurch nicht selbst in Gefahr begibst. Hole dir ansonsten Unterstützung!
- Frag vorsichtig nach und biete Hilfe an.
- Nutze Hilfsadressen wie
- den Frauennotruf (02663 / 8678 bzw. notruf@notruf-westerburg.de)
- das Hilfe-Telefon „Gewalt gegen Frauen“ (08000 116 016)
- das Hilfe-Telefon „Sexueller Missbrauch“ (0800 22 55 530).
Zur Verdeutlichung, wie absurd Vergewaltigungsmythen und das damit verbundene Victim blaming (Beschuldigung der Opfer) ist, schauen Sie sich gerne das Satire-Video von Quer unter folgendem Link an:
https://de-de.facebook.com/quer/videos/victim-blaiming/143844787680750/
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Es war nicht meine Schuld
wurde von Ann-Katrin Korn im Rahmen einer Projektarbeit für die Projektwerkstatt der Hochschule Koblenz erstellt.
[1] BKA (2018): Statistische Informationen zu ausgewählten Straftaten/-gruppen in der Bundesrepublik und in den Bundesländern sowie deren Hauptstädte.
[2] Statista Research Department (2022): Fälle von Vergealtigung und sexueller Nötigung pro 100.000 Einwohner bis 2020. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1587/umfrage/vergewaltigung-und-sexuelle-noetigung/
[3] Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Langfassung der Untersuchung von Schröttle und Müller (2004), herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sowie: Hellmann, D.F. (2014). Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. Hannover: KFN.
[4] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Lebenssituationen, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. S. 17
[5] Seith, Lovett & Kelly (2009): Unterschiedliche Systeme, ähnliche Resultate? Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern. Länderbericht Deutschland. In: Seith, Lovett & Kelly (Hrsg.): Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe. S. 4
[6] Jo Lovett & Liz Kelly (2009): Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe.
[7] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Lebenssituationen, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. S. 162
[8] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Lebenssituationen, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. S. 30
[9] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Lebenssituationen, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. S. 82
[10] Seith, Lovett & Kelly (2009): Unterschiedliche Systeme, ähnliche Resultate? Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern. Länderbericht Deutschland. In: Seith, Lovett & Kelly (Hrsg.): Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe. S. 9